Substanzkonsum und Vaterschaft
Ein Blick in nationale und internationale Arbeiten zu problematischem Substanzkonsum und Elternschaft zeigt, dass der Fokus auf den Drogen gebrauchenden schwangeren Frauen oder Müttern liegt und die Vaterschaft drogenkonsumierender Männer weitgehend ausgeblendet wird (Bernard/ Tödte 2016).*2
Gleichzeitig zeigt ein Blick auf die in NRW über den Deutschen Kerndatensatz und das NRWKIDS-Modul für NRW in den Jahren 2017 und 2018 erhobenen Daten, dass etwa 33 % (in 2017) bzw. 35 % (in 2018) der Männer, die als Klienten in den Sucht- und Drogenberatungsstellen beraten werden, eigene Kinder haben. Es wurden 60,8 % (bzw. 63,8 % in 2018) der insgesamt 4.193 (bzw. 4.034 in 2018) erfassten Kinder-Datensätze, die anhand der Fragen des NRWKIDS-Moduls in den Suchthilfeeinrichtungen NRWs erstellt wurden, durch die Väter der Kinder zusammengetragen. Die Zahlen legen die Vermutung nah, dass mit der Vernachlässigung des Blicks auf die mögliche Vaterschaft von Männern mit problematischem Substanzkonsum auch eine wichtige Chance vertan wird, Familien mit einer Suchtbelastung und Kinder, die in einer solchen Familie aufwachsen, zu erreichen. Voraussetzungen, die Kinder und Familien durch die Väter zu erreichen, wären, die betroffenen Männer überhaupt als Väter zu adressieren, also das Thema Vaterschaft im Beratungskontext aufzugreifen und auf eine Weise zu bearbeiten, die einer Zusammenarbeit der Väter mit dem Hilfesystem dienlich wäre.
Werden Männer, die aufgrund eines problematischen Substanzkonsums Beratungen in Einrichtungen der Sucht- oder Drogenhilfe in Anspruch nehmen, als mögliche Väter wahrgenommen und adressiert? Ließe sich über eine systematische Thematisierung der Vaterschaft in der Suchthilfe ein Zugang zu den Kindern etablieren, der die Vernetzung mit den Versorgungsstrukturen für die betroffenen Kinder und damit den Zugang der Kinder zu den Hilfesystemen nennenswert voranbringen würde?
Für die Auslotung erster Antworten stehen uns die Ergebnisse aus zwei explorativen Forschungsprojekten zur Verfügung, die in den Jahren zwischen 2015 und 2019 bei der Landeskoordinierungsstelle Frauen und Sucht NRW, BELLA DONNA, umgesetzt wurden: In den Jahren 2015 und 2016 wurde in Zusammenarbeit mit dem ZIS Hamburg eine explorative Annäherung an das Thema „Problematischer Substanzkonsum und Vaterschaft“ unternommen. Mit dem Modellprojekt NRWKIDS-Modul liegen erstmals Daten zu den Kindern der Klient*innen der ambulanten Sucht- und Drogenhilfe in NRW in einem Detaillierungsgrad vor, der Aussagen über die Sichtbarkeit der Kinder im Hilfesystem, ihre Einbindung in öffentliche Betreuungseinrichtungen oder auch ihre alltägliche Wohn- und Betreuungssituation zulässt. Das Resümee der Ergebnisse beider Projekte lässt folgende Empfehlungen an die Beratungspraxis der ambulanten Suchthilfeeinrichtungen zu:
Eine Öffnung und Sensibilisierung des Suchthilfesystems für männer*bezogene Belange und Unterstützungsbedarfe sowie die entsprechende Implementierung bzw. Ausweitung der geschlechtsbezogenen Arbeit mit Männern ist sowohl für die Stabilisierung der Männer als auch der Familien und somit den Schutz der Kinder zielführend. Die folgenden, im Rahmen des Projekts „Problematischer Substanzkonsum und Vaterschaft“ entwickelten Handlungsempfehlungen für die Praxis unterstützen diese Zielverfolgung und haben ungemindert Gültigkeit:
- Die Väter sollten seitens der Suchthilfe dahingehend gefördert werden, dass sie sich mit der Familienplanung (wenn möglich gemeinsam mit den Partner*innen) und einer stärkeren Verantwortungsübernahme auseinandersetzen. Zudem ist die Begleitung beim Übergang zur Vaterschaft angeraten.
- Aus der Geburt eines Kindes erwächst bei vielen Vätern eine große Motivation, den Substanzkonsum zu reduzieren oder ganz zu beenden. Ein solcher Abstinenzwunsch erhöht die Chancen des Erfolgs von entsprechenden Behandlungsmaßnahmen erheblich und sollte seitens der helfenden Institutionen unterstützt werden.
- Stabile, verlässliche, emotional befriedigende elterliche Beziehungen stellen eine wichtige Grundlage für eine gesunde Entwicklung von Kindern dar. Für die Praxis der Drogenhilfe lässt sich hieraus der Bedarf nach einer Verbesserung der Beziehungsqualität bzw. der Unterstützung einer positiven Partner*innenschaftsentwicklung von drogenabhängigen Vätern und ihren Partner*innen durch die gezielte Förderung partner*innenschaftlicher Kommunikation, Konflikt- und Problemlösungsfähigkeit und gemeinsamer Stressbewältigung ableiten.
- Es sollten innerhalb der Suchthilfe Möglichkeiten für die Reflexion von Geschlechterrollenverständnissen, geschlechtsbezogener Rollenzuschreibungen und darauf aufbauender subjektiver Vaterschafts- und Mutterschaftskonzepte geschaffen werden. Darin einbezogen werden müssen die Auseinandersetzung mit der eigenen geschlechtlichen Identität und deren Prägung durch gesellschaftliche Vorgaben, ebenso wie die Thematisierung von widersprüchlichen Männlichkeits-, Männer- und Vaterbildern und dadurch entstehende innere Spannungen und Konflikte.
- Viele Drogen Konsumierende nehmen das Jugendamt als Institution wahr, welche vorrangig auf die Mütter fokussiert und suchtmittelabhängigen Vätern per se misstraut. Insofern sind nicht nur Angebote angezeigt, die Väter bei der Kontaktaufnahme und -anbahnung zu ihren Kindern unterstützen und begleiten, sondern es gilt vor allem auch die Angst vor dem Jugendamt abzumildern. Drogenabhängige Väter sollten von den Jugendämtern in Bezug auf ihre Vaterrolle stärker und regelhaft gefordert und gefördert werden. Abgesehen davon ist eine systematisch verankerte Kooperation zwischen Drogenhilfe- und Jugendhilfe zu entwickeln und zu praktizieren.
- Ein relevanter Teil der Männer (und Frauen) mit einem problematischen Substanzgebrauch weist Bindungsstörungen aufgrund traumatischer Erfahrungen auf, die dazu führen können, dass keine Sensibilität (Feinfühligkeit) für die emotionalen Bedürfnisse und Signale ihrer Kinder besteht und nur begrenzte Ressourcen für die Vermittlung von Bindungssicherheit existieren. Entsprechend muss die komplexe Thematik „Trauma, Bindungsstörungen und Sucht“ geschlechtersensibel in die fachliche Qualifizierung, Konzipierung und Umsetzung von Angeboten einbezogen werden.
- Die Lebenserfahrungen von Vätern mit einer Drogenproblematik beinhalten häufig keine Vorerfahrungen aus der eigenen Biografie – positive (Vater-)Vorbilder liegen oftmals nicht vor, sodass es den betroffenen Männern an einem Fundament für eine positive Väterlichkeit fehlt, auf dem sich die erforderliche emotionale Einfühlung oder eine väterliche Identität entwickeln kann. Hier bedarf es an Angeboten, die einen emotional feinfühligen Umgang von Vätern mit ihren Kindern über die Vermittlung von Beziehungs- und Erziehungskompetenzen (Ebene: Vater-Kind-Beziehung), wie auch eine Verbesserung der individuellen Kompetenzen bezogen auf die Versorgung von Kindern fördern.
Ausblick: Geschlechtervielfalt und Elternschaft
Seit der Durchführung des Projekts „Problematischer Substanzkonsum und Vaterschaft“ hat das Thema Geschlechtervielfalt eine zunehmende Bedeutung für die Sucht- und Drogenhilfe gewonnen, da die Anzahl queerer Personen, welche die Leistungen des Hilfesystems in Anspruch nehmen, steigt. „Natürlich gibt es schwangere Männer!“, nämlich dann, wenn Menschen mit einer männlichen Geschlechteridentität und einem weiblichen Körper Kinder bekommen. Die Unterstützung von Eltern mit problematischem Substanzkonsum, die sich nicht in einfache heteronormative Schemata einfügen, sieht sich mit neuen, in den vorliegenden Studien noch gar nicht thematisierten Fragen konfrontiert.
Abschlussbericht
Problematischer Substanzkonsum und Vaterschaft